Eine andere Politik ist möglich! - Alternativen zum Sozialabbau!
Quelle: Zuerst erschienen in: Landesarmutskonferenz Niedersachsen, DGB Bezirk
Niedersachsen - Bremen - Sachsen-Anhalt (Hg.): „Absturzgefahr! Sozialabbau.
Auswirkungen und Alternativen“,
Hannover, März 2004, S.
24-28
Absturzgefahr Sozialabbau! Auswirkungen und Alternativen
Eine andere Politik ist möglich! - Alternativen zum Sozialabbau
von: Lars Niggemeyer (Koordinierungskreis Attac Deutschland) und
Christian Vasenthien (Attac Deutschland, Linksruck-Netzwerk)
Wir erleben gegenwärtig einen umfassenden Angriff auf die Lebensbedingungen
aller Menschen, die ihre Einkünfte aus Erwerbsarbeit, Renten,
Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe beziehen, also der überwältigenden
Mehrheit der Bevölkerung. Renten- und Arbeitslosengeldkürzung, Zuzahlungen im
Gesundheitswesen, Arbeitszeitverlängerung, radikale Streichungen bei Bildung
und Kultur werden uns von Politik und Medien als notwendige Maßnahmen zur
Rettung des „Standorts Deutschland“ präsentiert. Allerorten wird verkündet
diese Politik sei alternativlos. Diese Behauptung ist falsch. Es gab und gibt
Alternativen.
Privater Reichtum und öffentliche Armut - Es ist genug für alle da!
Armut und Krankheit sind heute etwas anderes als zu jedem anderem Zeitpunkt in
der Geschichte. Denn die Armut existiert neben einem Reichtum, der in einem
Ausmaß vorhanden ist, der eben diese Armut leicht für immer verbannen könnte.
Dennoch wird ständig behauptet, die sozialen Errungenschaften der 70er und 80er
Jahre seien nicht mehr zu finanzieren, weil Deutschland heute ärmer sei als früher.
Tatsächlich ist der gesellschaftliche Reichtum heute aber so groß wie nie
zuvor. Das Bruttoinlandsprodukt, das heißt die Summe des Werts aller in einem
Jahr hergestellten Waren und Dienstleistungen, ist von 1990 bis 2001 Jahr für
Jahr um durchschnittlich 1,5 Prozent gestiegen. Von 1960 bis 2002 hat sich das
Sozialprodukt sogar verdreifacht. Das Geldvermögen privater Haushalte hat sich
seit 1980 verfünffacht. Es lag 2002 bei 3.658 Milliarden Euro, aber ein Viertel
dieser Summe befinden sich in den Händen von nur einem halben Prozent der Bevölkerung.
Während der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank Rolf Breuer 2001 etwa
12,7 Millionen Euro verdiente, was einem Stundenlohn von 4.000 Euro entspricht,
leben in Deutschland heute rund 10 Prozent der Bevölkerung unterhalb der
Armutsgrenze.
Es wird mehr Reichtum als je zuvor produziert. Aber statt Hoffnungen auf ein
wohlhabenderes und bequemeres Leben zu haben, können viele Menschen oft nur in
der Furcht leben, dass sich ihre Lebenssituation verschlimmert. Statt zu
verschwinden, wächst die Armut. Über eine Million Kinder müssen in
Deutschland von Sozialhilfe leben, ca. zwei Millionen kommen oft ohne Frühstück
in die Schule oder in den Kindergarten. Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze
leben, werden sechzehnmal häufiger krank, ihre Lebenserwartung liegt vier Jahre
unterhalb des Durchschnitts.
Ein Großteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen sind,
Beschäftigte im Niedriglohnbereich. Rund 30 Prozent der Armen machen
Alleinerziehende aus, ca. 80 Prozent von ihnen sind alleinerziehende Mütter.
Frauen sind von der Armut besonders bedroht, sie verdienen durchschnittlich 30
Prozent weniger und besitzen nur 82 Prozent des ausgabefähigen Einkommens gegenüber
dem der Männer.
Seit den 90er Jahren sind auch wachsende Gruppen der gut ausgebildeten Mitte von
sozialen Schieflagen betroffen. Laut einer Armutsstudie der Caritas wurde Mitte
der 90er Jahre für 25 Prozent der Bevölkerung die soziale Lage so instabil,
dass alltägliche Schicksalsschläge wie Krankheit, Armut, Scheidung oder
Arbeitslosigkeit zumindest vorübergehend unter die Armutsgrenze führen
konnten.
Als Rezept gegen Massenarbeitslosigkeit fordern viele Politiker und die
Unternehmensverbände mehr Verdienste im Niedriglohnbereich. Schon 1980 bis 1997
erhielten acht bis neun Prozent aller ganzjährig Vollzeitbeschäftigten in
Westdeutschland Armutsverdienste unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens.
Im gleichen Zeitraum nahm der Anteil von Beschäftigten mit prekären Löhnen
und Gehältern von unter Zweidrittel des Durchschnittseinkommens von 16 auf 20
Prozent zu. Über 60 Prozent dieser Kolleginnen und Kollegen mit Armuts- oder
Prekärverdiensten besaßen eine anerkannte Berufsausbildung, zum Teil mit
Abitur.
Obwohl der Reichtum in Deutschland nie größer war, sind die Staatskassen leer,
weil sich Unternehmen und Vermögende immer weiter aus der Finanzierung der öffentlichen
Ausgaben zurückziehen konnten: Durch Absenkung der Gewinnsteuern hat sich ihre
Steuerbelastung von 1980 bis 2002 halbiert (von 24,0 Prozent
auf 12,1 Prozent). Ein wachsender Teil der Steuereinnahmen wird durch die
Lohnsteuer aufgebracht, obwohl die Gewinne viel stärker angestiegen sind als
die Löhne. Beispiel Körperschaftssteuer: Im Jahr 2000 zahlten
Aktiengesellschaften und GmbHs 23,6 Milliarden Euro - nach der Reform 2001
bekamen sie 400 Millionen Euro vom Staat zurück. Während der
Vorstandsvorsitzende von Daimler-Chrysler, Jürgen Schrempp, damit prahlt, dass
sein Konzern schon seit Jahren keine Steuern mehr zahlt, fehlt den Kommunen das
Geld für Schulen und Kindergärten. Während der Staat 2004 durch die Absenkung
der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau 4,7 Milliarden Euro einspart,
erhalten Gutverdiener durch die Reduzierung des Spitzensteuersatzes 6 Milliarden
Euro geschenkt Leere öffentliche Kassen sind also kein Schicksal, sondern das
Ergebnis einer gezielten Umverteilungspolitik zugunsten von Konzernen und Vermögenden.
Deshalb fordern wir: Eine umfassende Reform der Unternehmensbesteuerung,
Wiedereinführung der Vermögenssteuer, keine Absenkung des Spitzensteuersatzes.
Diese Maßnahmen würden zusammen mindestens 70 Milliarden Euro pro Jahr
erbringen.
Alle müssen am Produktivitätsfortschritt teilhaben!
Ohne Senkung der Lohnnebenkosten keine Reduzierung der Arbeitslosigkeit, so die
gängige Behauptung. Senkung der Lohnnebenkosten bedeutet aber Senkung der
Nettolöhne für alle Beschäftigten. Denn: Die Leistungen, die vorher zur Hälfte
durch den Arbeitgeber finanziert wurden, müssen die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer jetzt in Form von Eigenbeteiligungen und privaten
Zusatzversicherungen ganz allein bezahlen. Zudem führt das Absenken der Löhne
nicht zu mehr Beschäftigung - im Gegenteil: Die Lohnquote, also der Anteil der
Löhne am Volkseinkommen, sinkt kontinuierlich (von 1982 74 Prozent auf 2001 67
Prozent),
während die Arbeitslosigkeit zunimmt. Höhere Gewinne für die Unternehmen führen
keineswegs zu mehr Investitionen, der Großteil der Gewinne fließt vielmehr in
spekulative Finanzanlagen.
Im Übrigen schafft nicht jede Investition neue Arbeit, oftmals wird gerade in
arbeitssparende Automatisierung investiert. Die Ursache der Arbeitslosigkeit ist
der rasante Produktivitätsfortschritt, das heißt, die Zeitspanne, in der die
gleiche Menge an Produkten hergestellt wird, sinkt aufgrund von technischen
Neuerungen ständig. Von 1991 bis 2000 ist die Produktivität von
Industriearbeitern in Deutschland um 75 Prozent gestiegen, zugleich wurde die
Zahl der Industriearbeiter um ein Viertel vermindert. Das Gesamtvolumen der
Arbeit in der Bundesrepublik ist von 1960 bis heute von 58 Milliarden
Arbeitsstunden pro Jahr auf 47 Milliarden Stunden gesunken - bei gleichzeitiger
Verdreifachung des Sozialprodukts. Weniger Menschen können mit immer besseren
Maschinen immer mehr Güter herstellen. Angesichts dieser Entwicklung ist es völlig
verfehlt, die Arbeitslosen für die Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen
und weiter unter Druck zu setzen. Vollkommen widersinnig ist die Verlängerung
der Arbeitszeit und das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters, da beides nur zu
noch mehr Arbeitslosigkeit führt.
Deshalb fordern wir: Drastische Verkürzung der Arbeitszeit und eine angemessene
Grundsicherung für alle Menschen ohne Arbeit!
Bürgerversicherung statt Privatisierung von sozialer Sicherung!
Angesichts steigender Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme werden überall
Leistungen gestrichen und immer mehr Risiken privatisiert.
Solidarität (Besserverdienende zahlen mehr) soll durch Egoismus
(Kopfpauschalen) ersetzt werden. Zunehmend gilt die Regel „Wer nicht zahlen
kann, muss sehen, wo er bleibt.“ Durch die hohe Arbeitslosigkeit und die
Zunahme von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen leiden die
Versicherungssysteme unter finanzieller Auszehrung. Eine echte Bürgerversicherung,
die diesem Namen gerecht wird, kann aber Abhilfe schaffen. Alle Erwerbstätigen
- auch Selbständige, Unternehmerinnen, Beamte, Mini-Jobberinnen - zahlen den
gleichen Anteil von ihren Einkünften - über Lohn und Gehalt hinaus auch
Mieten, Zinsen und Ersparnisse durch Dienstwagen - in ein einheitliches
gesetzliches Versicherungssystem, das für alle Menschen eintritt. Da es für
Beamte und Ich-AGs sowie Kapitaleinkünfte keinen konkreten Arbeitgeber gibt,
sollte die paritätische Finanzierung durch eine Abgabe der kapitalintensiven
Unternehmen gewährleistet werden. Diese profitieren zum einen in besonderem Maße
vom Produktivitätsfortschritt und tragen zum anderen durch die Vernichtung von
Arbeitsplätzen zur Aushöhlung der Sozialsysteme bei.
Deshalb fordern wir: Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung!
Keine Privatisierung von gesetzlichen Versicherungsleistungen!
Globale Solidarität statt Standortkonkurrenz
Sozial- und Lohnabbau gibt es nicht nur in Deutschland. Weltweit greifen
Unternehmen und Regierungen den Lebensstandard von Beschäftigten und
Erwerbslosen an. Vielerorts wird behauptet, das jeweilige Sozialsystem, die
Rente, der Kündigungsschutz seien weltweit am großzügigsten und müssten in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten gekürzt werden. Auch in Deutschland werden
Politikerinnen und Politiker aller Parteien nicht müde zu betonen, dass der
Standort Deutschland nur durch Sozialabbau im globalen Wettbewerb bestehen könne.
Deutschland ist aber gar kein Verlierer der Globalisierung, sondern das Land mit
den höchsten Exportüberschüssen weltweit. Kein anderes Land ist wettbewerbsfähiger.
Der Verweis auf die Globalisierung soll nur eine weitere Umverteilung von unten
nach oben rechtfertigen.
Tatsächlich hat die Globalisierung durch die Freigabe des Kapitalverkehrs einen
gnadenlosen Wettbewerb um die besten Anlagebedingungen für Kapital entfacht.
Die Folge der Jagd nach maximalen Profiten ist eine weltweite Abwärtsspirale,
ein Wettbewerb zwischen allen Ländern um die schlechtesten Sozialleistungen,
die niedrigsten Löhne und geringsten Steuern. Sowohl zwischen reichen und armen
Ländern als auch innerhalb der Nationen wächst die Ungleichheit - die
Globalisierung produziert viele Verlierer und wenige Gewinner. Allerdings ist
diese Entwicklung kein Naturgesetz. Sie ist vielmehr seit den 70er Jahren durch
die Regierungen der Industrieländer gezielt in die Wege geleitet worden.
Diese könnten den Prozess auch wieder rückgängig machen, insbesondere durch
eine globale Mindestgewinnsteuer sowie durch eine Schließung der Steueroasen
(10 Billionen US-Dollar in „Offshore-Zentren“ unterliegen gar keiner
Besteuerung). Eine Steuer auf den Tausch von Devisen (Tobinsteuer) würde die Währungsspekulation
beschränken und für Stabilität im Welthandel sorgen.
Zudem sind internationale Sozialstandards erforderlich, die menschenwürdige
Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern garantieren.
Daher fordern wir: Einführung von internationalen Kapitalsteuern und
Arbeitnehmerrechten
Wir fordern ein europäisches Sozialmodell, das auf dem Konzept der „Solidarität“
basiert, soziale Gerechtigkeit, Vollbeschäftigung und ein hohes
Sozialschutz-Niveau anstrebt und allen Bürgern und Bürgerinnen qualitativ
hochwertige Dienste der Daseinsvorsorge zugänglich macht.
Die Erfahrungen der sozialen Bewegungen in ganz Europa zeigen, dass mit
Demonstrationen und Streiks Kürzungen abgewehrt und mehr Gerechtigkeit erkämpft
werden können.
Der Europäische Aktionstag am 3. April 2004 gegen Sozial-, Bildungs- und
Lohnabbau ist ein wichtiger Schritt zu einer internationalen Solidarisierung
sozialer Bewegungen, um deutlich zu machen, dass die Wirtschaft den Menschen
dienen muss und nicht umgekehrt.