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Gesundheit
- Streit um neue Heilmittelrichtlinien: Krankengymnasten befürchten
einschneidende Verschlechterungen
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Zwangspause
am Massagetisch
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VON
BRIGITTE GISEL
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BERLIN/REUTLINGEN.
Schlaganfallpatienten ohne Krankengymnastik, sprachbehinderte Kinder, die
auf ihre gewohnten Logopädie-Stunden verzichten müssen - aus Sicht
vieler Krankengymnasten droht Millionen Menschen vom April an ein »Horrorszenario«.
Dann nämlich sollen die neuen Heilmittelrichtlinien in Kraft treten und,
so fürchten die Heilmittelerbringer, viele Patienten möglicherweise ohne
Krankengymnastik, Massage und Bewegungstherapie zurücklassen. Verbände
der Heilmittelberufe haben bereits 750 000 Protestpostkarten gedruckt in
manch einer Praxis liegen Formbriefe, die an Gesundheitsministerin Ulla
Schmidt andressiert sind. Denn noch könnte die Ministerin theoretisch die
Neuregelung stoppen. Nach Ansicht vieler Experten ist das jedoch eher
unwahrscheinlich. »Wir sind noch dabei zu prüfen«, sagt
Ministeriums-Sprecherin Ilona Klug auf GEA-Anfrage. Die Entscheidung fällt
in den nächsten Wochen, spätestens Ende Februar.
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Beschlossen
hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen die neuen
Heilmittelrichtlinien schon Anfang Dezember. Sie sollen klarer regeln,
wann und wie oft ein Patient Anspruch auf Krankengymnastik, Massage oder
andere Therapieformen hat. Doch natürlich geht es dabei auch ums Geld: »Vor
allem aber eine Steigerung der Ausgaben für Heilmittel von 20 Prozent im
Jahre 2002 im Vergleich zu 2000 machte eine Überprüfung der
Heilmittel-Richtlinien erforderlich«, heißt es in einer Mitteilung des
gemeinsamen Bundesausschusses. Physiotherapeuten halten das für eine
Milchmädchen-Rechnung: Der Bedarf an ambulanten Heilmitteln habe nur
deshalb zugenommen, weil die ambulante Rehabilitation abgeschafft worden
sei. Und im Jahr 2001 entfielen 7,1 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen
Krankenversicherungen auf Heil- und Hilfsmittel. Zum Vergleich: Die
Verwaltungsausgaben betrugen 5,5 Prozent.
Krankengymnasten in der gesamten Republik laufen Sturm gegen die
anstehende Neuregelung. Ihre Kritik: Bei akuten Krankheiten wie Arthrose
gibt es künftig nur noch sechs statt 14 Anwendungen. Chronisch Kranke,
beispielsweise Rheumatiker, müssten mit Zwangspausen am Massagetisch und
anderswo rechnen. Im Regelfall sei eine zwölfwöchige Therapiepause
zwischen zwei Behandlungsintervallen vorgeschrieben. Die Reutlingerin
Ulrike Herr, Vorstandsmitglied in der Aktionsgemeinschaft der
Heilmittelerbringer, hat Schlaganfallpatienten im Blick: »Für sie sind künftig
zwar 40 Behandlungen am Stück möglich«, sagt die Therapeutin. Wer dann
aber weiter Krankengymnastik benötigt, muss kämpfen. Die Kasse zahlt
nur, wenn der Arzt ein Gutachten schreibt und der Sachbearbeiter es
akzeptiert.
Streit um Dauerbehandlung
Die Kassenärzte sehen das nicht ganz so eng: »Wenn es medizinisch
notwendig ist, kann der Arzt auch darüber hinaus verordnen« heißt es in
einer gemeinsamen Pressemitteilung mit den Spitzenverbänden der
gesetzlichen Krankenkassen. Für Ulrike Herr hat die Sache aber noch einen
weiteren Haken. Wenn Ärzte das Budget für Heilmittel nicht ausschöpfen,
wird ihnen das ersparte Geld im eigenen Budget gutgeschrieben. Die
Physiotherapeutin hat erhebliche Zweifel, dass das die Bereitschaft erhöht,
Gutachten für die Weiterbehandlung zu schreiben.
Der Deutsche Verband für Physiotherapie läuft Sturm gegen die neue
Regelung. Im Internet hat er seine Mitglieder unter dem Stichwort »Kampfmaßnahmen-Pressebriefing«
munitioniert und eine Gebrauchsanleitung für den Umgang mit Journalisten
beigelegt. Zu vermittelnde Kernaussage: »Still und heimlich plant Ulla
Schmidt die Situation chronisch Kranker erheblich zu verschlechtern.«
»Alles Panikmache«, meint dazu der Vorsitzende des
Gesundheitsausschusses des Bundestags, Klaus Kirschner (SPD). »Auch künftig
erhalten die Patienten die medizinisch notwendigen Behandlungen.«
Langfristverordnungen, etwa für Schlaganfallpatienten, seien auch in den
neuen Heilmittelrichtlinien vorgesehen - ein Arzt könne durchaus 50
Anwendungen am Stück verordnen. Therapiepausen gibt es nach Ansicht
Kirschners »nur dann, wenn es notwendig ist«. Der Aufschrei der
Physiotherapeuten fällt für Kirschner in ein bekanntes Muster: »In der
Gesundheitspolitik sagen alle, es muss etwas passieren - aber nicht bei
uns.«
Der Streit um die Heilmittelrichtlinien schwelt schon seit längerem.
Karl-Heinz Haack, SPD-Bundestagsabgeordneter und Behindertenbeauftragter
der Bundesregierung hatte noch im Oktober gegen die geplante Neufassung
gewettert. Von einer »Nacht- und Nebel-Aktion« war die Rede, und von »Kaltschnäuzigkeit«,
mit der sich Kassen und Ärzte über den »erklärten Willen des
Gesetzgebers« hinwegsetzten.
»Krüppelheim« beschworen
Prompt konterte der Bundesausschuss: Der Behindertenbeauftragte und
streitbare SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Hermann Haack neigt bekanntermaßen
sehr schnell zu emotionalen Reaktionen und gelegentlich auch zu groben Tönen«.
Und beim Beschluss handele es sich auch schon deswegen nicht um eine
Nacht- und Nebeleaktion, weil er »am helllichten Tag und nicht zur
Nachtzeit« gefasst wurde. Der Sturm legte sich rasch, als festgelegt
wurde, dass Langzeitverordnungen zumindest nicht ausgeschlossen sind.
Beim Zentralverband der Physiotherapeuten in Niedersachsen gibt man sich
dagegen kampflustig. »Wenn diese Änderungen im Heilmittelbereich
durchgesetzt werden, fragt man sich, ob diese Patienten dann langfristig
in »Krüppelheimen« weggesperrt werden, heißt es in der jüngsten
Mitteilung. (GEA) |
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