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Frankfurter Rundschau, 03.06.2006
Sozialstaat in Schleudergefahr
VON CHRISTOPH BUTTERWEGGE
Mit den Plänen zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, also Konzepten wie jenen
der sog. Hartz- und der sog. Rürup-Kommission oder Gerhard Schröders
"Agenda 2010", häuften sich Bemühungen, die in der Gesellschaft bis
dahin gültigen Gerechtigkeitsvorstellungen grundlegend zu verändern. Reformen
dieser Art wären sonst nicht durchzusetzen gewesen. Der dominierende
Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht modifiziert: von der Bedarfs-
zur Leistungsgerechtigkeit, von der Verteilungs- zur
"Beteiligungsgerechtigkeit" und von der sozialen zur
"Generationengerechtigkeit".
Wohltaten für Wohlhabende
Statt der Bedarfs- wird Leistungsgerechtigkeit zum Kriterium für
sozialstaatliches Handeln gemacht. Das Elterngeld ist ein sozialpolitisches
Paradox, weil der Staat damit jene Anspruchsberechtigten am meisten
subventioniert, die es am wenigsten nötig haben. Obwohl es nicht - wie von der
CSU verlangt - auf die Sozialhilfe bzw. das Arbeitslosengeld II angerechnet
wird, haben Leistungsbezieher/innen (darunter viele Frauen), die Kinder
bekommen, vom Elterngeld, das ab 1. Januar 2007 im Unterschied zum
Erziehungsgeld als Lohnersatz gezahlt und erst bei 1800 Euro pro Monat gedeckelt
wird, ausschließlich Nachteile. Denn bisher erhielten sie das Erziehungsgeld in
Höhe von 300 Euro pro Monat zwei Jahre oder als "Budget" in Höhe von
450 Euro ein Jahr lang. Elterngeld gibt es dagegen nur für ein Jahr; Erwerbstätigen
werden unter bestimmten Voraussetzungen zwei (Partner-)Monate zusätzlich gewährt;
gleichzeitig liegt sein Sockelbetrag, mit dem Sozialhilfebezieher/innen und
Arbeitslose auskommen müssen, bloß bei 300 Euro. Gutbetuchte erhalten auf
Kosten von schlechter Gestellten mehr (Eltern-)Geld, das vor allem hoch
qualifizierte, gut verdienende Frauen motivieren soll, Kinder zu bekommen und
anschließend schnell wieder in den Beruf zurückzukehren.
Bildung und Umverteilung
Obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief
wie nie zuvor ist, gilt die Forderung nach Umverteilung heute als ideologisch
verstaubt. Neoliberale und Lobbyisten haben Freiheit mit Erfolg als gutes Recht
der Kapitaleigentümer (fehl)interpretiert, zu investieren, wie und wo sie
wollen. Gleichzeitig wird Verteilungsgerechtigkeit als traditionelles Ziel
sozialstaatlicher Politik durch Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit
ersetzt. Entscheidend sei heute, dass Menschen einen gleichberechtigten Zugang
zu Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhielten, heißt es häufig. So
sinnvoll die Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs sein mag, so wenig darf sie
vergessen machen, dass "Beteiligungsgerechtigkeit" durch soziale
Ungleichheit der Boden entzogen wird. Schon bevor Studiengebühren eingeführt
wurden und ihnen bald vielleicht neuerlich Schulgeld folgt, gab es (Weiter-)Bildung
nicht umsonst. Weshalb sollte ausgerechnet zu einer Zeit, wo das Geld in fast
allen Lebensbereichen wichtiger als früher, aber auch ungleicher denn je
verteilt ist, seine Bedeutung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
sinken?
Generationengerechtigkeit
Zu den Schlagworten, die suggerieren (sollen), dass sich die Frontlinien der
gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung abgeschliffen hätten und neue
Konstellationen entstanden seien, denen sich die Analyse zuwenden müsse, gehört
der Vorwurf mangelnder Generationengerechtigkeit. Oft scheint es, als sei der
Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit durch einen neuen Grundwiderspruch, nämlich
denjenigen zwischen Jung und Alt, abgelöst und Klassenkampf durch einen
"Krieg der Generationen" ersetzt worden. Damit lenkt man von den
eigentlichen Problemen wie der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung
ab.
Wenn ein Wohlfahrtsstaat demontiert wird, seine Transferleistungen für Bedürftige
gesenkt und die gültigen Anspruchsvoraussetzungen verschärft werden, obwohl
das Bruttoinlandsprodukt wächst und der gesellschaftliche Reichtum zunimmt,
kann weder von sozialer noch von Generationengerechtigkeit die Rede sein. Denn
offenbar findet eine Umverteilung statt, von der gerade die Mitglieder bedürftiger
Alterskohorten nicht profitieren. Beispielsweise verschlechtert die Erhöhung
des Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre eher die Arbeitsmarktchancen zukünftiger
Generationen. Wer in den Ruf nach "Generationengerechtigkeit"
einstimmt, müsste eigentlich darum bemüht sein, dass Heranwachsende auch künftig
einen hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat und das gewohnte Maß an sozialer
Sicherheit vorfinden, statt Letztere immer mehr zu beschneiden und die Menschen
der privaten Daseinsvorsorge zu überantworten.
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