| |
Reutlinger
Generalanzeiger |
09.03.2006 |

|
Altersversorgung
- Gesetzliche Rente wird nicht mehr ausreichen. Private und betriebliche
Vorsorge verstärken
|
Warnung
vor der Altersarmut
|
BERLIN.
Wer heute nicht für eine zusätzliche Privatrente spart, wird im Alter
verarmen. Die gesetzliche Rente allein werde in den kommenden
Jahrzehnten den gewohnten Lebensstandard nicht mehr sichern, räumte
Sozialminister Franz Müntefering am Mittwoch im
Rentenversicherungsbericht ein. Alle sollten mehr als bisher für ihr
Alter zurücklegen. Eine Pflicht zur Privatvorsorge sei aber nicht
geplant. Die Opposition warnte vor »flächendeckender Altersarmut« und
forderte Gegenmaßnahmen der Regierung.
|
»Wir
müssen uns da noch verdammt anstrengen«, sagte Müntefering am
Mittwoch in Berlin. Es gebe immer mehr lückenhafte Erwerbsbiografien,
bei denen man wisse, »das kann eigentlich nicht gut gehen«. Einen
Zwang zur privaten Zusatzversicherung lehnte Müntefering jedoch weiter
ab.
»Sicherheit im Alter ist möglich«, sagte der Vizekanzler bei der
Vorlage des Rentenberichts der Bundesregierung in Berlin. Opposition,
Gewerkschaften und Sozialverbände äußerten Kritik, die Arbeitgeber
sehen die Rentenversicherung durch die angekündigten Reformen »ein Stück
zukunftsfester«. Müntefering verteidigte die zuvor vom Kabinett
gebilligten Prognosen als realistische Annahmen.
Die gesetzliche Rente bleibe Kern der Altersversorgung, betonte der
Minister. Die Struktur sei in Ordnung, das System bis zum Jahr 2030
tragend. Allerdings müssten die private und betriebliche Vorsorge noch
verstärkt werden. Die »Riester-Rente« müsse zur Selbstverständlichkeit
werden.« Untere Einkommensgruppen nutzten die Möglichkeiten zu wenig.
In ihrem aktuellen Bericht hat die Bundesregierung nach zwei Nullrunden
auch für die folgenden drei Jahre Rentensteigerungen für die derzeit
knapp 20 Millionen Ruheständler ausgeschlossen. Es soll aber auch keine
Rentenkürzungen geben. Beschäftigte und Unternehmen sollen nicht stärker
als bisher geplant belastet und der Beitragssatz von 2007 bis 2012 bei
19,9 stabil gehalten werden. Bis 2014 soll er dann auf 19,4 Prozent
sinken. Der Rentenversicherungsbericht gibt einen Überblick über die
wichtigsten Pläne der Regierung zur Altersversorgung sowie eine
Prognose für die Entwicklung des Rentensystems in den nächsten 15
Jahren. (dpa)
Seite 3
|
Reutlinger
Generalanzeiger |
09.03.2006 |

|
Renten
- Bericht von Sozialminister Franz Müntefering offenbart, dass
bisherige Prognosen viel zu optimistisch waren
|
Schritte
Richtung Altersarmut
|
VON
GÜNTHER VOSS
|
BERLIN.
Schönfärberei will sich Franz Müntefering nicht nachsagen lassen,
schon gar nicht bei den Renten. »Ich verspreche, dass ich in zehn
Jahren wieder hierher komme. Dann bin ich elf Jahre Arbeits- und
Sozialminister, und ich werde mich dann gerne rechtfertigen für das,
was in der Zwischenzeit gelaufen ist«, sagt der 66-jährige
Sozialdemokrat mit leicht augenzwinkerndem Bekennermut. Am Mittwoch hat
der Vizekanzler seinen Rentenversicherungsbericht im Kabinett
abgeliefert. Jetzt stehen seine Einschätzungen zur Zukunft der Rente
wie in Stein gemeißelt - auf weit mehr als 500 Seiten.
|
»Man
hat damals die Entwicklung zu positiv eingeschätzt«
Der SPD-Mann legt Wert darauf, dass seine Prognosen »realistisch sind«,
jedenfalls realistischer als jene Zahlen, die Norbert Blüm (CDU), einer
seiner Vorgänger als Rentenminister, noch 1995 in Aussicht stellte -
verbunden mit der Versicherung: »Die Rente ist sicher.« Heute, zehn
Jahre später, steht fest: Die Rente ist mit Sicherheit niedriger als
gedacht.
Jahrelange Stagnation der Wirtschaft, flaue Lohnentwicklung, hohe
Arbeitslosigkeit und eine alternde Gesellschaft haben die schönen
Rentenprognosen von damals zur Makulatur gemacht. Müntefering
korrigierte kräftig nach unten: Die Standardrente nach 45
Versicherungsjahren wird nach seinen Berechnungen im Jahr 2009 bei 1180
Euro liegen und nicht - wie von Blüm verheißen - bei 1510 Euro. Ein
Prognose-Minus von 330 Euro oder gut einem Fünftel. »Man hat damals
die Entwicklung zu positiv geschätzt«, sagt Müntefering.
Das soll sich nicht mehr wiederholen. Aber: »Garantieren kann man das
nicht.« Letztlich werde die Höhe der Renten »abhängig sein von der
Wohlstandsentwicklung in Deutschland«. Gegen alle Einwände und Kritik
zeigt sich der Minister von seinem Rentenkonzept überzeugt: Er kämpft
für die Rente mit 67, das »Rentenkürzungs-Verhinderungsgesetz«,
weitere Nullrunden bis 2008, den »Nachholfaktor« in der Rentenformel
und die »Entdynamisierung des Bundeszuschusses«. Hinter all diesen
Chiffren verbergen sich faktisch systematisch und lang angelegte Rückführungen
des Rentenniveaus.
Für Müntefering ist das Paket ohne Alternative. Rund 87 Milliarden
Euro buttert der Bund allein in diesem Jahr in die Rentenversicherung.
Trotzdem müssen die Beiträge zum Jahreswechsel erhöht werden. Ohne
die Steuermittel läge der Beitragssatz nicht bei knapp 20, sondern bei
26 bis 27 Prozent. Müntefering kämpft mit Widersprüchen und
Zielkonflikten. Schont er den Bundesetat, wie er das mit der Halbierung
der Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose plant, entzieht er den
Rentenkassen im Gegenzug mehr als zwei Milliarden Euro. Zum Ausgleich
steigt der Rentenbeitrag.
Kritiker aus dem linken Lager, von Gewerkschaften und Sozialverbände
werfen dem Minister vor, seine Rentenpläne förderten vor allem
Altersarmut. Die Rentenlücke im Alter werde mit der Rente mit 67, mit
Nullrunden und später nachgeholten Rentenkürzungen immer größer. Müntefering
kontert: Den Lebensstandard werde nur halten können, wer länger
arbeitet und kräftig zusätzlich privat vorsorgt. Früher habe es zur
Kommunion oder Konfirmation einen Bausparvertrag gegeben. Heute rate er
zur Riester-Rente. »Das muss zur Selbstverständlichkeit werden.«
In seiner Bilanz kommt Müntefering zu überraschend rosigen Aussichten:
Das »Netto-Gesamtversorgungsniveau bleibt für Durchschnittsverdienende
im Zeitverlauf nahezu unverändert«, heißt es. Für Geringverdienende
werde es sogar ansteigen, weil sie auf ihre Renten weniger Steuern
zahlen müssten. Die Realität allerdings dürfte anders aussehen. Denn
der Bericht unterstellt, dass nicht nur jeder eine Riester-Rente
anspart, sondern darüber hinaus noch weitere erhebliche
Privatversicherungen zur Altersvorsorge abschließt. (dpa/GEA)
Kernpunkte des Berichts
Das Bundeskabinett hat den von Bundessozialminister Franz Müntefering
(SPD) vorgelegten Rentenversicherungsbericht am Mittwoch gebilligt. Der
Bericht gibt einen Überblick über die wichtigsten Rentenpläne der
Regierung und eine Prognose für die Entwicklung des Rentensystems in
den kommenden 15 Jahren. Wichtige Vorhaben der großen Koalition sind
der schrittweise Einstieg in die Rente mit 67 ab 2012, ein Gesetz gegen
aktuelle Rentenkürzungen und die Anhebung des Beitragssatzes zur
Rentenversicherung von 19,5 auf 19,9 Prozent Anfang kommenden Jahres.
Dem Bericht zu Folge stehen weitere Nullrunden für die knapp 20
Millionen Rentner bis 2008 bereits fest. Bis 2016 sollen die Renten den
Prognosen zu Folge um fast zwölf Prozent zulegen, die Beiträge sollen
zwischenzeitlich sinken. (dpa)
 
|

|
Externe
Links |
 | www.bmas.bund.de (http://www.bmas.bund.de) |
|
Reutlinger Generalanzeiger |
09.03.2006 |

|
KOMMENTAR
|
Rente
kein Garant zum Überleben
|
VON
ROLAND BENGEL
|
Nichts
fürchten viele Menschen mehr, als einen drohenden Lebensabend
in Armut. Die Furcht vor Altersarmut zieht durch die
Rechenbeispiele über das künftige Rentenniveau immer weitere
Kreise. Ob diese kollektive Angst begründet ist oder nicht,
spielt keine Rolle, wenn die Grundbedürfnisse der betagten
Menschen wie Essen, Kleiden oder Wohnen gefährdet scheinen.
Machtlos drängen sich bereits den Jüngeren jene Bilder des 19.
Jahrhunderts ins Bewusstsein, als viele alte Menschen ganz
konkret unter wirtschaftlicher Not zu leiden hatten.
Soll mit den durch Otto von Bismarck (Reichskanzler von
1871-1890) begründeten Sozialgesetzen, die im Zeitalter der
Industrialisierung der sich verbreitenden Armut einen Riegel
vorgeschoben haben, bald Schluss sein? Berechtigt lässt sich
dagegen einwenden, dass die Sozialhilfe auch künftig ein Garant
für das soziale Netz sein wird. Andererseits ist es den
Rentnern nicht zu verdenken, wenn sie nach einem arbeitsreichen
Leben nicht auf ein Almosen des Staates angewiesen sein wollen,
sondern die Rentenversicherung als das definieren, was sie auch
sein sollte: eine Versicherung, die bei Eintreten des
Versicherungsfalls einen Rechtsanspruch begründet.
Diesem Rechtsanspruch liegt bislang ein Prinzip zugrunde, das
mit Generationenvertrag umschrieben wird. Je nach
demographischer Entwicklung kann dadurch bewirkt werden, dass
Arbeitnehmer selbst bei längerer Arbeitszeit und damit längerer
Einzahlung in die Rentenversicherung weniger Rente bekommen können.
Auch die derzeit hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik trägt
dazu bei, dass die Rentner auf absehbare Zeit nicht mit einer höheren
Rente rechnen können. Ganz im Gegenteil: Sie müssen durch
etliche Nullrunden bei gleichzeitigem Anstieg von Steuerquote
und Inflationsrate sogar mit einem realen Kaufkraftverlust
rechnen, und das auf Jahre hinaus.
Damit aber rückt die Perspektive Altersarmut in den Blickpunkt
von immer mehr Menschen. Das Problem könnte sich in Zukunft
sogar weiter verschärfen, weil viele Arbeitslose,
Geringverdiener, Teilzeitbeschäftigte oder Minijobber eine
geringere Rente bekommen werden. Nach einer Studie, die vom
Deutschen Institut für Altersforschung vorgelegt wurde, droht
nahezu jedem dritten Bürger im Alter die Verarmung. Nicht
umsonst wird im Rentenbericht der Bundesregierung betont, dass
die Rente künftig nicht mehr zum Leben reichen wird. Der Ausweg
wird in der privaten und betrieblichen Vorsorge gesehen. |

|
|
|
|
|
|
09.03.2006 / Ansichten / Seite 8
Rentenversicherung nicht zu retten: Alle sollen zahlen
Von Rainer Balcerowiak
»Die Rente ist sicher«, hieß es bei Norbert Blüm, »die Rente bleibt
sicher« bei Franz Müntefering. Was jedoch bei dem sozialdemokratischen
Christdemokraten noch dem Wunderglauben an stetiges Wirtschaftswachstum
und annähernde Vollbeschäftigung geschuldet war, ist bei dem
neoliberalen Sozialdemokraten nur noch blanker Zynismus. Die Politik
seiner Partei ist seit Jahren auf die Verdrängung
sozialversicherungspflichtiger, existenzsichernder Arbeitsplätze durch
prekäre Jobs gerichtet. Verbunden mit der strukturellen
Massenerwerbslosigkeit hat das zu einem dramatischen Schwund bei der
Bruttolohnsumme abhängig Beschäftigter geführt. Da das System der
deutschen Rentenversicherung aber ausschließlich auf dieser Summe
basiert, muß es bei dauerhaften Mindereinnahmen zwangsläufig
kollabieren. Die Folgen sind ein kontinuierlich sinkendes Rentenniveau für
die sogenannten Bestandsrentner und schrumpfende Ansprüche der künftigen
Ruheständler an die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung.
Schon jetzt bezieht die Hälfte aller Rentner pro Monat weniger als 850
Euro brutto aus der Versicherung. Da die »Patchwork-Generation« der
wenigstens temporär Erwerbslosen und prekär Beschäftigten das
Ruhestandsalter noch gar nicht erreicht hat, fällt es nicht schwer,
sich auszumalen, wie diese Quote in 15 bis 20 Jahren aussieht. Sogar der
sogenannte »Eckrentner«, der 45 Jahre auf der Basis eines
durchschnittlichen Verdienstes Beiträge gezahlt hat, wird durch die
bereits beschlossene Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus von jetzt
52,2 auf 46,3 Prozent der durchschnittlichen Löhne im Jahr 2019 wohl
kaum mehr als 1 000 Euro erhalten.
Der Lösungsvorschlag der neoliberalen Sozialmarodeure für dieses
Problem ist eindeutig. Altersvorsorge soll, wie auch Absicherung für
den Krankheits- und Pflegefall, oberhalb eines Sockelbetrages
steuerfinanzierter Armutsalmosen weitgehend Privatsache werden. In den
penetranten Aufforderungen an die Bevölkerung, doch bitte mehr fürs
Alter auf die hohe Kante zu legen, schwingt deutlich die Drohung mit,
das diejenigen, die das nicht können, dann eben sehen müßten, wo sie
bleiben.
Das bedeutet aber keineswegs, daß die Idee einer Steuerfinanzierung für
alle sozialen Sicherungssysteme prinzipiell falsch wäre. Mit einer
relativ geringfügigen Erhöhung der Gesamtsteuerquote könnte diese auf
eine armutsfeste Grundlage gestellt werden. Voraussetzung wäre ferner
ein lineares Steuersystem, das alle Einkommensarten umfaßt und
Steuerschlupflöcher verstopft.
Von all dem sind wir in Deutschland Lichtjahre entfernt. Dennoch
erscheint der Kampf dafür wesentlich realistischer als der Versuch, ein
irreparabel beschädigtes System aus den Zeiten andauernden
Wirtschaftsbooms irgendwie retten zu wollen.
|